Ein Gastbeitrag von Gerd Kolbe, HSC-Aufsichtsratsmitglied, früherer Pressesprecher der Stadt Dortmund und des BVB

Für seine Freunde und Mannschaftskameraden war er „der Schwatte – wegen seines dunklen Haarschopfes. Die Fans im Lande nannten ihn den „Til.“  Sein Name: Hans Tilkowski. Seine Berufung: Botschafter des Herzens. Sein Beruf: Torhüter. 1935 in DO-Husen geboren, 2020 verstorben. Aus den wirklich bedeutenden Torhütern der BVB-Geschichte ragt er heraus. Ob Heini Kwiatkowski, Stefan Klos oder Roman Weidenfeller: An die unbestreitbare Weltklasse eines Hans Tilkowski kamen sie nicht heran. In seiner großen Karriere wurde er DFB-Pokalsieger, Europapokalsieger und Vize-Weltmeister. Er ist der unsterbliche Mann des „Wembley-Tores“ der Fußball-WM 1966. Das in Wahrheit ja kein Tor war. Und nicht zu vergessen: Er gehört mit zu den „Benfica-Helden“ des BVB. Also zu der legendären Elf, die die damals beste Fußballmannschaft der Welt namens Benfica Lissabon am 4. Dezember 1963 im Stadion Rote Erde sensationell aus dem Europapokalsieger der Landesmeister warf.

Der „Schwatte“ war ein sehr sozial eingestellter Zeitgenosse. Er erhielt 1991 das Bundesverdienstkreuz, weil er sich über Jahrzehnte hinweg für an Multiples-Sklerose erkrankte Menschen eingesetzt hatte. 1981 sorgte er dafür, dass es 15 Jahre nach dem großen Europapokalsieg des BVB über den FC Liverpool ein Erinnerungsspiel im Westfalenstadion gab, in dem sich die beiden Endspielgegner von 1966 noch einmal gegenüberstanden. Mit dem sechsstelligen Erlös dieser Begegnung wurde die Kinderferienparty in den Westfalenhallen finanziert, die damals vor dem Aus stand. Wenn man den „Til“ allerdings fragte, welches Ereignis sein Leben als Sportsmann am meisten geprägt habe, brauchte er nicht lange nachzudenken.

„Das war unsere Partie gegen den damaligen Europa- und Weltpokalsieger Benfica Lissabon in Dortmund, die als das „Spiel des Jahrhunderts“ in die Geschichte des BVB eingegangen ist, mit den unvergesslichen Ereignissen rund um das Match herum. Das Hinspiel im Achtelfinale des Pokals der Landesmeister am 6. November in Lissabon hatten wir knapp mit 1:2 verloren und damit eine ausgezeichnete Ausgangsposition für das Rückspiel einen Monat später in der Roten Erde geschaffen. Würden wir wirklich Chancen gegen Eusebio und Co. haben? Ein Sieg, also eine echte Sensation, wäre zwingend erforderlich. Das brachte reichlich Diskussionsstoff.

Daneben gab es aber ein anderes Thema, das ganz Deutschland bereits seit Wochen beschäftigte und neben dem alles andere verblasste: Das schreckliche Grubenunglück in Lengede, bei dem viele, viele Bergleute ihr Leben lassen mussten. Millionen nahmen Anteil und bangten mit dem Angehörigen um das Leben der Eingeschlossenen. Das Drama hatte gerade jetzt einen neuen Höhepunkt erreicht: Ein Kontakt zu elf seit zwei Wochen eingeschlossenen Bergleuten war hergestellt worden. Sie hatten sich in einen winzigen Bereich des Stollens retten können. Insbesondere Timo Konietzka und ich hingen praktisch immer am Radio, um neue Informationen zu bekommen. Stammten wir doch beide aus Bergarbeiterfamilien. Ich wusste aus den Erzählungen meines Vater, wie man sich in akuten Notsituationen unter Tage fühlte. Allein vom Zuhören lief es mir dabei eiskalt den Rücken herunter. All das ließ unseren Auftritt in Lissabon fast zu einer Randerscheinung werden. Am Tag nach dem Spiel ging es zurück nach Dortmund, wo wir uns im Hotel Bender zu einem abschließenden gemeinsamen Mittagessen trafen. Auch hier stand neben unserem gestrigen Spiel die Angst um die verunglückten Bergleute im Blickpunkt der Gespräche. Mitten in unser Essen platzte dann die Information, dass die elf Verschütteten mit einem Spezialbohrer sowie einer extra gefertigten Bergungseinrichtung aus ihrem unterirdischen Gefängnis befreit werden konnten und sich wohlbehalten, wenn auch geschwächt, auf der Erde in Sicherheit befanden. Timo und ich sprachen uns ab und gingen dann zum Vorstandstisch zu unserem Präsidenten Dr. Werner Wilms. Auch er hatte die freudige Nachricht von der Bergung der elf tapferen Bergleute gehört und war höchst beglückt. Alle sprachen nur vom „Wunder von Lengede.“ Von dem Vorschlag, zu unserem Rückspiel am 4. Dezember in der Kampfbahn „Rote Erde“ die elf Geretteten als Ehrengäste einzuladen, war er sehr angetan. Flugs besprach er mit unserer Geschäftsführerin Margot Stenzel die erforderlichen Schritte für die Einladung. Die entsprechenden Karten auf der Ehrentribüne wurden reserviert, ein Bus für den Transport bestellt, der Nebenraum der Stadiongaststätte „Rote Erde“ gebucht, und so weiter, und so fort.

Unsere Einladung wurde dankend angenommen, und so sahen wir frohen Mutes unserem Rückspiel gegen Benfica entgegen. Die Begegnung am 4. Dezember fand vor 45.000 Zuschauern statt. Wir kamen mit unserem Mannschaftsbus knapp drei Stunden vor Spielbeginn in der Kampfbahn an. Bevor wir in die Umkleiden gingen, schauten wir noch kurz bei unseren Ehrengästen vorbei und sagten ihnen guten Tag. Als wir um 19.30 Uhr ins Stadion einschritten, winkten wir hoch zur Ehrentribüne, wo sie saßen. Dann ging´s raus auf den Platz, und das große Spiel begann.

Es war sehr, sehr kalt. Minus fünf Grad. Als die Portugiesen am Vortag in Lissabon abflogen, war es dort fast frühlingshaft mild. Plus 19 Grad. Nun schnatterten sie vor Kälte, dass es eine wahre Freude war. Timo Konietzka schoss das 1:0, es folgten die drei Wundertreffer von Goldköpfchen Franz Brungs, und Reinhold Wosab besorgte das 5:0. Das hatten sich die großen Champions aus Lissabon nicht träumen lassen. Sie waren so konsterniert, dass sie erst eine Stunde nach Beginn, und das auch nur auf dringendes Bitten der Vertreter des Europäischen Fußball-Verbandes, am offiziellen Bankett im „Römischen Kaiser“ in der Dortmunder Innenstadt teilnahmen. Uns war dies relativ egal. Bei uns im „Römer“ befanden sich nämlich unsere Ehrenäste aus Lengede, mit denen wir fröhlich schmausten und uns bestens unterhielten. Und natürlich gab es vor ihrem Abschied gegen Mitternacht noch eine kleine vorgezogene Bescherung durch den zufällig anwesenden Nikolaus und seinen Gehilfen namens Knecht Ruprecht.

Auch wir fühlten uns beschenkt! Denn dieser 4. Dezember 1963 hatte uns und die „Helden von Lengede“ zusammengeführt. Damit hatten wir viel mehr als nur ein wichtiges Spiel im Rahmen des Europapokals der Landesmeister gewonnen. Nämlich die Sympathien und die Dankbarkeit der elf geretteten Bergleute von Lengede, die wir unser ganzes Leben nicht vergessen werden.“

Frohe Weihnachten!